Hier sollen immer wieder mal Kritiken, Rezensionen, Nachrufe etc. erscheinen
Melodien von damals
9.12.2024
Meine Zeitmaschine fährt nach Westen. Um 12.36 fährt die Westbahn ab. Es schneit etwas und ist winterlich trüb - Wie vermutlich vor 40 Jahren auch. Die Vorfreude auf das Christkind war aus der Perspektive eines 12-jährigen wohl noch unendlich größer, im Radio verbreiteten die brandneuen Weihnachtssingles „Do they know it’s Christmas Time“ (Band Aid) oder „Last Christmans“ (Wham!) Stimmung.
Längst vergessen?
Auch Nik Kershaw’s neue Single „The Riddle“ wurde rauf und runter gespielt.
Längst vergessen?
Der Interpret vermutlich ja, die Singles die er zwischen 1984 und 1985 veröffentlichte reichen aber beinahe für ein halbes „Best of 80ies“ Album. „The Riddle“ war eine seiner besten, aber alle waren stilprägend und von einer speziellen Pop-Qualität. Die Produktionen waren zeitgeistig, die Hook-Lines prägnant und Nick Kershaw gelang in jeder Nummer scheinbar spielerisch zwischen Tonarten hin und her zu springen.
Mit 66 Jahren fängt das Leben an. Und so hat sich Mr. Kershaw entschieden seine ersten beiden Alben (merke also „alle“ Hits) im Rahmen der Retro-Tournee „1984“ zu spielen.
Natürlich nicht in Österreich aber immerhin in München. Als ich das las, dachte ich – das geb ich mir. Einige Für- und Wider Abwägungen später geb ich es mir tatsächlich!
40 Jahre! – All jenen die heute (deutlich) jünger sind als ich, wünsche ich auch, dass sie in 40 Jahren irgendwo dabei sein können, wo sie als Jugendliche noch aufgeschaut haben. Vielleicht gibt es sie dann noch die Songs, mit denen man aufgewachsen ist?
Und vielleicht werden sie sogar noch live gespielt?
Ich freu mich jedenfalls – Nik Kershaw war 84/85 ganz groß (inkl. repektablem Live Aid Auftritt), das Debut Album „Human Racing“ ist sicher mit-verantwortlich für meinen bis heute anhaltenden (Retro)Syntheziser-Fetischismus.
1986/87 kam die 3. LP „Radio Musicola“ auf den Markt aber die zündete nicht mehr. Ich kaufte die Single aus dem Wühlkorb und war beeindruckt von der Rhythmik und dem funky Bass mit vermutlich echten Bläsern.
Nick Kershaw verschwand nach einer vierten Platte aus der ersten Reihe – um in der zweiten aktiv zu werden:
Elton John und (wie ich herauszuhören meine) Cliff Richards griffen auf die Talente des jungen Musikers (und Multiinstrumentalisten) zurück.
Und alle die heute noch schmunzeln, wenn „I am the one and only“ des längst vergessenen Chesney Hawks im Radio ertönt, dürfen auch diese Produktion Nick Kershaw zuordnen.
Ein Grund warum ich nach München fahre ist aber auch die Tatsache, dass Nik Kershaw danach auch mit Tony Banks von Genesis zusammen arbeitete. Sie hatten sogar 1991 einen kleinen Allerweltshit I wanna change the score (Wo? Zumindest nicht in Österreich) – das zweite gemeinsame Stück auf der Soloplatte von Tony Banks („Still“ 1991) hieß Red Day on blue street on zeigt die geballte Kraft, die zwei in Harmonien und Akkorden derart versierte Musiker zu Stande bringen können.
Nicht auszudenken, wäre so ein Song um 1985 erschienen!
Weiters habe ich Nik Kershaw The Lamia mit der großartigen Steve Hackett Band performen sehen und war beeindruckt. Das für mich emotionalste Stück des Genesis Meisterwerks „The lamb lies down on Broadway“ interpretiert von einem meiner Teenie-Idole hat ein weiteres Mal gezeigt, welchen Stellenwert Nik Kershaw in der zweiten (oder mittlerweile sogar eher hinteren) Reihe genießt.
Ähnlich wie dem Teenie-Kurzzeit Idol Nick Beggs (Kajagoogo, heute Bassist u.a. bei Steve Hackett) ist dem Vollblutmusiker Kershaw wohl die Teenie-Idol Phase eher „passiert“. Ich behaupte ich habe damals schon rausgehört, dass hinter solchen Leuten mehr als nur der schnelle Hit steckt.
Doch Schluss mit der schwülstigen Einleitung – heute Abend geht es in die Muffathalle in München – Wouldn’t it be good? It will be good!
München: Nieselschneeregen – Muffathalle, nix öffnet vor 19.00
Wir durchnässten nicht mehr ganz jungen Kinder der 80er Jahre müssen noch etwas im Kühlen verharren. Dafür ist es drinnen umso heimeliger (?)
Gegen 20.00 geht es los – ja man kennt es noch von irgendwo (Audio Kassette, mal in die LP rein gehört?) – sie spielen The Riddle (also das 2. Album) zuerst.
Bei Wide Boy werden die Handys das erste mal verzückt gezückt. Das Video war ja auch zu süß – aber das war bitte ein „kleinerer“ Hit!
Easy wird erstmals (!) seit 1984 live gespielt. Der ebenso großartige Mark King (Level 42) hat den Bass damals eingespielt und bis jetzt hatte Kershaw offenbar keinen Live Bassisten der das so hinbekam. Das Wagnis ist mehr als gelungen!
Dann wieder Hit-Alarm: Don Quixote – Sommer 85‘
Die Songs sind durchdacht, rhythmisch komplex aber so kurz! Jedes wäre radio-tauglich gewesen. Nik Kershaw erlaubt sich meist zwei statt auf der Platte ein „Soloradl“, aber sonst – lupenreine 80er Jahre Produktion. Technologisch hat sich in der Studiotechnik zwischen 1980 und 89 vermutlich vor- und nachher nie wieder so viel getan!
Die 5-Mann Band spielt exakt, aber nicht alles scheint „live“ zu sein – 2 Gitarren tun der einstmals syntheziser-überfrachteten Musik gut. Kurz vor der Pause – die Halle steht das erste Mal The Riddle ertönt gegen 21.00. So frisch und melodiös wie vor 40 Jahren. Nur der Text ist Kershaw angeblich bis heute peinlich – es sei verziehen.
Ich merke ich kann gar nicht richtig mitsingen, bin etwas gerührt, gerührt…..
Nach der Pause: Human Racing Album. Cloak and Dagger, was für eine unglaubliche Start-nummer in das 2. Set denke ich mir.
Titelsong: Human Racing plätschert sentimental zur damals angesagten Roland Drum Machine. Ein kompositorischer Höhepunkt, auch damals schon als ich das Album zum ersten Mal hörte.
Und die Drummachine arbeitet gleich weiter:
Dancing girls – Englisches Fernsehen verschaffte mir 1984 ungeheure Startvorteile. Ich war schon bei der Nachfolgesingle, da stieg die erste in Österreich erst in die Charts ein.
War ganz ganz ganz oben bei meinen Favourites damals, leider weltunbekannt in Österreich.
So sehr ich auf die Nummer stand, so unendlich weit schien damals das Instrumentarium um so etwas erschaffen zu können – und das Roland Piano Plus 11 zum Preis eines Kleinwagens, dafür aber mit 4 schlechten Pianoklängen kam auch erst im Sommer.
Der heiße Scheiß stand im Keller des Musikgeschäftes und hätte bei meinen Eltern finanzielle Schnappatmung bedeutet.
In der Muffathalle hat das Stück (trotz massivem Sequenzer-Einsatz) richtig abgehoben.
2 Nummern später – Wieder Aufsteh-alarm!
Wie alles begann: Wouldn’t it be good, Anfang 1984.
Ein Welthit, funktioniert auch heute noch.
Dazwischen immer wieder ausgeklügelte Sequenzen, Level 42 Rythmiken, ein großartiger Bass. 2 LPs ohne Füllmaterial, nur Perlen.
Aber es kommt wie es kommen musste – 2 Alben füllen einen Konzertabend aber keine jahrzehntelange Karriere.
Das Intro von I won’t let the sun go down on me wird auf der Gitarre in die Länge gezogen, fast als wollte Nik Kershaw nicht von der Bühne. Sommer 84‘ wir singen wieder alle mit.
Was spielt man für Zugaben, wenn 2 Alben zu Ende gespielt worden sind?
When a heart beats zum Beispiel – von 1986, aber er hat gesagt es ist von 1984 (vielleicht tastächlich geschrieben?)
Auch das war weltunbekannt in Österreich – aber ich habe einmal (!) das Musikvideo gesehen und das reichte schon für große Sympathie. Die zweite Zugabe kannte ich nicht, gefiel mir aber sehr gut.
Die dritte – naja:I am the one and only
Warum auch nicht…..
Nik Kershaw wollte alle seine Hits los werden und es ist Ihm gelungen:
Selten soviel Applaus von der Bühne an das Publikum (und die Crew) und – berührend – an den heuer verstorben Produzenten der beiden 84er Alben Peter Collins Richtung Hallendecke erlebt.
Super Band:
Drums: Bob Knight
Gitarre: Adam Evans
Bass: Paul Geary
Keyb: Phil Peskett
80er Musik in Reinkultur, aber mit 2 Gitarren. Hochpräzise gespielt und (bereits vor 40 Jahren) verdammt gut produziert. Nik Kershaw, für mich ein kleiner ganz ganz großer in Sachen Songwriting und Komposition.
Und ich war dabei! Vom ersten bis zum letzten Hit.
Beim ersten hatte ich nur eine GEM Jumbo 61 Orgel, beim letzten Hit immerhin bereits eine Schulband.
Und da sage einer, dieser Mann hätte mich nicht geprägt?